„Ich stehe wie versteinert da. Die Sonne spüre ich gar nicht mehr, die Vögel sind für mich verstummt. Alles, was bleibt, ist dieses Gefühl, das mich schon mein Leben lang begleitet: eine Mischung aus Wut, Ohnmacht und Scham.“
Diese Zeilen treffen mitten ins Herz – und sie stammen nicht aus einem Roman, sondern aus der Realität. Genauer gesagt: Aus dem neuen Buch Fat Business von Bobby Herrmann-Thurner. Es ist ein Buch, das keine leichte Kost ist. Eines, das lange weh tut. Aber genau deshalb so wichtig ist.
In einer Gesellschaft, die Körper in Kategorien sortiert und Kleidung nur bis Größe 44 feiert, braucht es mutige Stimmen wie diese. Denn Fat Business ist viel mehr als eine Autobiografie oder ein politisches Statement – es ist eine emotionale, wütende, empowernde Reise durch das Leben als mehrgewichtige Frau in einer Welt, die einem ständig das Gefühl gibt, zu viel zu sein.
„Dicke sind nicht das Problem.“ – Der Satz, den wir endlich laut sagen müssen
Schon der Untertitel macht deutlich: Dieses Buch will nicht beschönigen. Herrmann-Thurner schreibt als Aktivistin, Veranstalterin eines Plus Size-Markts, als Betroffene und als Frau, die nicht länger schweigen will. Sie spricht über die Scham, die einem eingeimpft wird, bevor man überhaupt versteht, was ein Ideal ist. Über Ärzte, die schon Kindern Diäten verschreiben. Über Einkaufsbummel, die in Tränen enden. Und über das Schweigen einer Gesellschaft, die lieber Diätshakes verkauft, als über Diskriminierung spricht.
Wir sind nicht das Problem – das System ist es.
Dieses System analysiert sie mit scharfem Blick: Die Diätindustrie, die Milliarden mit Unsicherheiten verdient. Die Modebranche, die Plus Size Mode in Ecken verbannt. Die Medizin, die mehrgewichtige Körper vorschnell als krank abstempelt. Und eine Gesellschaft, die dicke Menschen entmenschlicht, auslacht oder ignoriert – statt ihnen auf Augenhöhe zu begegnen.
Wenn Arztbesuche zur Zumutung werden
Ein großer Teil des Buches widmet sich der strukturellen Gewichtsdiskriminierung, insbesondere in der Medizin. Was viele nicht wissen: Dicke Menschen werden in Arztpraxen oft anders – oder schlechter – behandelt. Beschwerden werden auf das Gewicht reduziert, Diagnosen übersehen, Therapien verweigert. Wir selbst erinnern uns noch gut an die eindrücklichen Erfahrungen unserer Protagonistinnen in der "#behindthesmile"-Fotokampagne gegen Gewichtsdiskriminierung gemeinsam mit Silvana Denker. Auch Herrmann-Thurner spricht offen darüber, wie wir uns oft in Arztpraxen fühlen:
„Denn wir wissen nur zu genau, was gleich passieren wird. Wir müssen für uns kämpfen […] bevor wir die Behandlung bekommen, die uns ebenso wie allen anderen Menschen zusteht.“
Was Herrmann-Thurner beschreibt, ist keine Einzelerfahrung. Es ist Alltag für Millionen Menschen. Das Vertrauen in die medizinische Versorgung schwindet, die gesundheitlichen Folgen sind dramatisch. Studien zeigen: Diskriminierung macht krank – und kann tödlich enden: Krankheiten werden übersehen, Diagnosen verzögert. Nicht, weil Patient:innen „zu dick“ sind, sondern weil Ärzt:innen sich weigern, neutral zu behandeln.
Mode für große Größen – zwischen Scham und Sichtbarkeit
Die Autorin beschreibt sehr eindrücklich, wie Mode ein Ort des Ausschlusses bleibt. Auch 2025. Die Auswahl ist klein, die Schnitte oft versteckend. Und das, was es gibt, ist meist nicht auf Augenhöhe mit Mainstream-Fashion. Sie erzählt vom Gefühl, sich nicht gesehen zu fühlen – obwohl der Körper im Raum immer präsent ist. Wie Plus Size Mode oft nur eine Marketingmasche ist. Und wie sehr es fehlt, sich modisch, mutig und schön fühlen zu dürfen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen.
Plus Size: versteckt und verbannt.
Genau hier fühlen wir so sehr mit, genau das war auch der Grund, warum wir vor mehr als 10 Jahren Wundercurves gegründet haben. Seit damals hat sich viel zu wenig verändert, noch immer sind die großen Größen ein Randphänomen im stationären Handel, man denke nur an H&M, die die großen Größen nur noch online vertreiben. Und selbst hier - im großen Online-Angebot - muss man sich in vielen Shops erst zu den großen Größen durchklicken, vorbei an Skinny Models - oder auch nicht vorbei, denn obwohl die Größenrange hoch geht, werden oft keine kurvigen Models für das Shooten der Kollektionen verwendet. Wir bündeln Deutschlands Angebot an großen Größen auf nur einer Seite - damit Du Dich wohlfühlen kannst beim Shoppen, erkannt und gesehen wirst und dich nicht erst in irgendeinen Sonderbereich klicken musst mit einer viel zu kleinen, altbackenen Auswahl. Aber auch wir wissen ganz genau: Sichtbarkeit ist nicht nur ein Style-Thema – sie ist politisch. Wenn Mode ab Größe 46 aufhört, modern zu sein, dann ist das kein Zufall – sondern ein Ausschlussmechanismus.
Die Diätindustrie – Milliarden mit unserem Körperhass
Ein weiteres starkes Kapitel entlarvt, wie wirtschaftlich lukrativ der Hass auf dicke Körper ist. Pillen, Shakes, Operationen, neue Abnehmspritzen: Die Diätindustrie profitiert davon, dass wir uns selbst nicht mögen. Bobby beschreibt eindrucksvoll, wie der Kapitalismus die Unsicherheit rund um Körper und Gewicht ausnutzt – und wie sehr wir gelernt haben, zu glauben, dass Glück, Liebe, Gesundheit und Erfolg nur schlank erreichbar sind.
„Nicht unter meinem Körper habe ich gelitten, sondern unter der medizinischen und gesellschaftlichen Meinung über meinen damals vollkommen gesunden Körper.“
Ein Satz, den man nicht mehr vergisst. Er zeigt, wie sehr die Selbstwahrnehmung durch äußere Stimmen vergiftet wurde. Das Buch macht deutlich: Es ist kein persönliches Versagen, dick zu sein. Es ist ein strukturelles Problem, wenn das als Scheitern gilt.
Sprache als Schlüssel zur Befreiung
Ein besonders spannender Teil ist der, in dem Herrmann-Thurner über Sprache spricht: Über die Macht von Worten wie „Übergewicht“, „Adipositas“ oder „fett“. Und darüber, warum sie bewusst andere Begriffe wie „Mehrgewicht“ oder „hochgewichtig“ nutzt.
Sprache ist nicht neutral – sie formt unser Denken. Und dieses Kapitel ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie notwendig es ist, unsere Begriffe zu hinterfragen. Gerade, wenn wir über Körper sprechen, über Menschen, über Identität.
Von der Ohnmacht zur Wut – und zur Kraft
Vielleicht der berührendste Aspekt des Buchs ist: Es bleibt nicht bei der Kritik. Es ruft auf zur Veränderung. Zur Selbstermächtigung. Zum Mut, laut zu sein. Und zur Kraft, die in der Wut liegt.
„Wut war für mich nur ein Anfang. Aus Wut wurde: etwas verändern wollen.“
Das Buch zeigt viele Geschichten: von Frauen, die sich endlich trauen zu reisen. Von Künstler:innen, die ihren Körper sichtbar machen. Von Menschen, die nicht mehr leise sind. Sie alle sind Teil einer Bewegung – und Herrmann-Thurner gibt ihnen mit Fat Business eine gemeinsame Stimme.
„So nicht, nicht mit uns, wir sind gut, wir sind wertvoll, wir haben ein gutes Leben verdient!“
Fazit: Ein Buch, das Du nicht vergisst
Fat Business ist ein mutiges, wütendes, tröstendes Buch. Es zeigt: Die Probleme liegen nicht im Körper – sondern in einem System, das Körper abwertet.
Wenn Du Plus Size Mode liebst, für Body Positivity einstehst oder einfach verstehen willst, was strukturelle Diskriminierung bedeutet – dann ist dieses Buch ein Muss.
Buchtipp
Titel: Fat Business – Dicke sind nicht das Problem: Für eine Kehrtwende von Politik, Medizin und Wirtschaft
Autorin: Bobby Herrmann-Thurner
Verlag: Kremayr & Scheriau
Erscheinungstermin: 14. Oktober 2025